Was kann ein Mensch ertragen, bis er zerbricht?

Vor sechs Wochen begleitete ich als Übersetzer einen Kollegen zu einer Wohnungsbesichtigung, die vom dortigen Hausmeister durchgeführt wurde.

Nachdem wir uns gleich mehrere Wohnungen angesehen hatten, kam ich auf dem Weg nach draußen mit dem Herrn ins Plaudern. Beiläufig erwähnte er, dass seine Lebensgeschichte in den USA verfilmt werden wird. Erstaunt fragte ich nach. Er schien erleichtert zu sein, dass ich als Mitglied der Generation Y sofort weiß, dass der geplante Filmtitel „Sympathy for the devil“ auf den Rolling Stones Song bezogen ist.

Meine Fahrt zur Wohnung, die Wartezeit auf meinen Kollegen und die Besichtigung mehrerer Wohnungen nahmen einige Zeit in Anspruch, sodass ich schon ein leicht schlechtes Gewissen bekam, so langsam mal ins Home Office fahren zu müssen, um endlich meinen Arbeitstag zu beginnen. Zumal mein Chef mich gerade anrief und sagte, dass gleich ein kurzfristig angesetztes Meeting beginnen würde, bei dem es gut wäre wenn ich dabei sein könnte.

Doch in Berlin eine vernünftige Wohnung zu finden, ist verdammt schwierig. Und wenn man noch kein Deutsch spricht, ist es noch härter. Keinesfalls wollte ich dem Hausmeister gegenüber unhöflich erscheinen, denn bei meinem Telefonat mit dem Eigentümer (der die Besichtigung urlaubsbedingt nicht selbst durchführte) einige Tage zuvor wurde mir klar, dass er ein Unmensch ist und seine ganz eigenen Kriterien dafür hat, wer eine Wohnung bekommt und wer nicht.

Die knappe Zusammenfassung der Lebensgeschichte des Hausmeisters zog mich schnell so sehr in den Bann, dass ich alles um mich herum vergaß. Ich muss dann wohl kurz sprachlos gewesen sein und ungläubig geguckt haben, denn plötzlich zückte der Herr sein Handy und googelte seinen Namen.
1. Eintrag: Website, 2. Eintrag: YouTube-Interview, 3. Eintrag: Amazon-Link zu seinem Buch.

Heute habe ich sein Buch zu Ende gelesen – um nicht zu sagen: ich habe es in kürzester Zeit verschlungen – und das führt mich zu diesem Blogeintrag.

Die Überschrift zeigt es bereits: es ist keine fröhliche Geschichte.

So wie ich wurde Edgar Eisenkrätzer in der so genannten „Deutschen Demokratischen Republik“ geboren, die weder Deutsch war (denn alle wichtigen Entscheidungen wurden in Moskau getroffen), noch demokratisch, noch eine Republik, wie Willy Brandt einmal feststellte. Und so setze ich sie in Anführungszeichen, wie es Axel Springers Verlag von 1963 bis 1989 tat.

1978 wurde Herr Eisenkrätzer (geboren 1959) zu einem Jahr Gefängnis wegen „geplanter Republikflucht und Diebstahls“ verurteilt, nachdem er angetrunken auf einer Feier brüllte „Hier ist alles scheiße, ich hau jetzt in den Westen ab!“. Der Verrat durch offizielle oder inoffizielle Mitarbeiter der Stasi lauerte überall.

1979 kam er noch einmal für 4 Monate ins Gefängnis. Er hatte einem Kollegen eine Jeansjacke und -hose aus dem Westen verkauft, die dieser in 2 Raten bezahlen wollte. Als dieser sich weigerte, die 2. Rate zu zahlen, nahm Edgar die Jacke aus dessen Spind und hinterlegte die 1. Rate. Dafür ging es ins Gefängnis für den Staatsfeind. Wegen „Diebstahls und Hehlerei“.

1982 folgte eine 3-jährige Haftstrafe wegen „versuchten Grenzübertritts“, als Edgar über die CSSR in die BRD flüchten wollte.

Sein Wunsch nach Freiheit war so groß, dass er im Zuchthaus Cottbus einen genialen und absolut Hollywood-reifen Fluchtplan ausarbeitete. Es folgte einer der spektakulärsten Gefängnisausbrüche auf deutschem Boden.

Viel mehr will ich an dieser Stelle nicht verraten, denn ich möchte ja, dass ihr sein Buch lest.

Was fasziniert mich so daran?

Zunächst mal hört man nicht jeden Tag aus erster Hand die Geschichte von jemandem, der einige Jahre im Gefängnis verbrachte, noch dazu in einem Unrechtsstaat. Die Staatssicherheit legte über 9.000 Seiten an Akten über Eisenkrätzer an.

Heute leben wir in einer Zeit, in der Politik, Medien und Bildungswesen dem Sozialismus und der Unfreiheit von Jahr zu Jahr stärker zugeneigt sind, je mehr die Erinnerungen an dieses düstere Kapitel der deutschen Geschichte verblassen. Daher ist sein Buch für meine Generation, die das Glück hatte, nicht in solch einem grausamen System leben zu müssen, unheimlich wertvoll. Es sollte zur Pflichtlektüre an Schulen werden.

Die Kreativität der Insassen war grenzenlos. Mit welchen Mitteln sie sich (verbotenerweise) Radios und Tauchsieder bastelten, ist beeindruckend.

Das Buch ist auch einfach verdammt gut geschrieben. Rückblenden wurden bspw. an genau den richtigen Stellen eingesetzt und haben genau die richtige Länge. Und auch wenn das Leben im Gefängnis sehr eintönig war, so wird die Geschichte nie langweilig. Spannend geschrieben und garniert mit Fotos sowie Auszügen aus den Stasi-Unterlagen. Man kann sich in den Gefängnis-Alltag hinein versetzen, so gut wie es mit einem Buch eben geht.

Ich denke auch, dass man während und nach Lesen des Buches die vielen kleinen Selbstverständlichkeiten des Lebens viel mehr wertschätzt. Die gute Tasse Kaffee oder Tee. Das kühle Bier. Dass man die Freiheit besitzt, morgen an jeden Ort der Welt zu reisen, ohne Angst haben zu müssen, beim Verlassen der eigenen Landesgrenzen erschossen zu werden.

Man leidet beim Lesen mit dem Autor, wenn er von den Wächtern über Wochen hinweg immer wieder grün und blau geprügelt wird. Oder wenn ihn seine Eltern besuchen und er sie weder berühren darf, noch von jeglichen Geschehnissen im Gefängnis berichten darf. Und doch gibt es genügend Stellen, an denen er den Leser zum Lachen bringt.

Was dieser Mann erleiden musste an physischer und psychischer Folter, hätte ich niemals überstanden. So viel steht fest.

Und so bin ich froh, dass er körperlich wie geistig gesund ist und seinen Weg gegangen ist – in Freiheit, für die er sich mehrfach in Lebensgefahr begeben hat.

Sein Buch mit dem passenden Titel „Der Wunsch nach Freiheit: Was kann ein Mensch ertragen, bis er zerbricht?“ gibt es hier bei Amazon.

„Einige Vögel sind nicht dazu geschaffen eingesperrt zu werden. Sie haben ein zu glänzendes Gefieder. Und wenn sie davonfliegen, dann jubelt der Teil in mir, der weiß, dass es eine Sünde war sie einzusperren.“ (aus dem Film „Die Verurteilten“)

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2 Gedanken zu „Was kann ein Mensch ertragen, bis er zerbricht?

  1. Pingback: Das wurde woanders geschrieben – Woche 42/2020 › Fuseboroto.info

  2. Spannende Geschichte. Ich bin ebenfalls ein paar Jahre in der DDR aufgewachsen. Meinem Onkel ging es damals ähnlich: Party, Stasi, Polizei, Gefängnis mit dem Unterschied, dass er als politischer Gefangener nach den Westen verkauft wurde, gegen seinen Willen.

    Die Nostalgie macht mir auch zu schaffen, bin auch Facebook Mitglied einer Ostallgie-Gruppe, nichts gegen etwas Schwelgen in Erinnerungen, aber hier bekommt man schon das Gefühl, dass viele die Zeit inzwischen glorifizieren und zurück haben wollen, natürlich mit Facebook und Smartphone. Nach dem Motto: wir hatten ja alles, uns ging es gut und die Gesellschaft war nicht so wie heute.

    Ich war zur Wende 10 Jahre alt. Hatte ich eine gute Kindheit ja! Aber im Nachhinein gibt es jede Menge Dinge, die ich erst später einordnen konnte, z.B. die ständige Indoktrinierung in der Schule, wie schlecht der Westen doch sei etc. Und was mir auch in Erinnerung geblieben ist, wie eine Klassenkameradin von der Stasi abgeholt worden ist, nach einem Klassenausflug. Ihre Eltern wurden verhaftet und wir haben sie nie wieder gesehen.

    Ich kann daher auf jeden Anfall von Sozialismus und Kommunismus gut verzichten.

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