Autonomes Fahren: Vergangenheit, Gegenwart & Zukunft

Ich lese derzeit ein Buch mit dem Titel: „Der letzte Führerscheinneuling ist bereits geboren“.

15 Bücher zu Finanzen, Politik & Wissenschaft habe ich in den letzten 3 Jahren gelesen. In keinem hatte ich so viele interessante Stellen markiert wie im Aktuellen, obwohl ich gerade mit der ersten Hälfte durch bin.

Autor ist Dr. Mario Herger. Der Österreicher lebt seit 18 Jahren im Silicon Valley in Kalifornien, ist dort als CEO einer Beratungsfirma tätig und war zuvor Entwicklungsleiter bei SAP.

Im Buch geht es um die Zukunft der Mobilität. Dabei stützt sich Herger nicht nur auf das, was er im Silicon Valley seit Jahren beobachtet, sondern auch auf 772 angegebene Quellen.

Ich teile das Buch in drei Bereiche, zwischen denen der Autor hin und her springt: Elektromobilität, autonomes Fahren und Sharing Economy.

In meinem heutigen Beitrag konzentriere ich mich auf das autonome Fahren, wobei das Buch die Grundlage bildet, ich aber auch weitere Quellen benutze.

Damit wir uns richtig verstehen: Wir sprechen hier nicht über eine weit entfernte Zukunft, wie es die deutschen Medien gern verkaufen. Ich verrate euch vorab schon mal: Es gibt ein Unternehmen, das bereits über 17 Millionen Kilometer im Selbstfahrmodus auf öffentlichen Straßen zurückgelegt hat.

Meinen Beitrag gliedere ich wie folgt:

I. Definition
II. Geschichte
III. Vorteile & Ethik
IV. Wie weit ist welches Unternehmen aktuell?

 

I. Definition

Autonom ist nicht gleich autonom. Der internationale Verband der Automobilingenieure unterscheidet sechs Automationsstufen:

Level 0: Keine Automation. Der menschliche Fahrer führt alle Fahraktivitäten aus, selbst wenn Warnsignale aufleuchten.

Level 1: Fahrerassistenz. Das Fahrzeug kann beim Lenken oder bei einer Geschwindigkeitsanpassung unter gewissen Bedingungen assistieren. Der menschliche Fahrer behält jedoch die vollständige Kontrolle.

Level 2: Teilautomation. Das Fahrzeug kann unter bestimmten Bedingungen die Lenkung oder Geschwindigkeitsanpassung übernehmen. Der menschliche Fahrer ist vollständig für das Steuern verantwortlich. („Hände weg“)

Level 3: Bedingte Automation. Das Auto lenkt, passt die Geschwindigkeit an und beobachtet die Straße. Vom menschlichen Fahrer wird erwartet, dass er die Kontrolle übernimmt, wenn das System Hilfe benötigt. („Augen weg“)

Level 4: Hohe Automation. Das Fahrzeug kann so ziemlich alles entscheiden, auch wenn der menschliche Fahrer auf eine Hilfeanfrage des Systems nicht reagiert. („Aufmerksamkeit weg“)

Level 5: Vollständige Automation. Das Fahrzeug ersetzt den Menschen.

Wenn es hier im Beitrag um die Erfolge der vergangenen Jahre geht, dann ist Level 3 gemeint. Allerdings wird mein Beitrag auch zeigen, dass ein erstes Unternehmen schon so weit ist, dass eine menschliche Hilfe nur alle 17.000 Kilometer erfolgen muss (bei Tests auf öffentlichen Straßen) – wir sind also schon ganz nah an Level 5.

 

II. Geschichte

1985 begann ein Team der Bundeswehr-Universität in München mit Experimenten zum autonomen Fahren. 1987 bauten sie einen Mercedes-Bus zum Versuchsfahrzeug für autonome Mobilität um und ließen ihn einen abgesperrten Autobahnabschnitt entlangfahren.

1994 baute Mercedes Kameras und Computer in zwei SEL 500 Limousinen. Eines der Fahrzeuge fuhr 1.000km auf der Autobahn nach Paris mit bis zu 130 km/h und im Jahr darauf 1.700km von München nach Stockholm mit bis zu 175 km/h. Die Wagen waren mit 18 Kameras ausgestattet. 70 parallel geschaltete Mikroprozessoren führten 850 Millionen Rechenoperationen pro Sekunde durch. 400 Mal wurde völlig autonom die Spur gewechselt. Die längste Strecke ohne menschlichen Eingriff betrug 160 Kilometer. Ein Forscher übernahm das Lenkrad nur in Baustellenbereichen, an Autobahnkreuzen und in anderen komplexen Situationen, die nicht im Modell gespeichert waren.

Die Forschung wurde anschließend trotz dieser Erfolge wieder zurückgefahren, da die Technologie zu teuer und sperrig war. Erst mit den Fortschritten in Computertechnologie, Software und Sensoren sowie dem Preisverfall wurden massenkompatible autonome Fahrzeuge wieder denkbar.

Die DARPA, eine Behörde des US-Verteidigungsministeriums, hat in den vergangenen Jahrzehnten Forschungsprojekte für die US-Streitkräfte durchgeführt und Wettbewerbe ausgeschrieben. Aus einem davon ging das Internet hervor. In den Jahren 2004, 2005 und 2007 gab es Wettbewerbe zum autonomen Fahren.

Dabei wurde 2004 ein Preisgeld von einer Million Dollar ausgesetzt für dasjenige Fahrzeug, das 240 Kilometer Wüstengebiet ohne menschliches Zutun durchqueren konnte. Es gab keinen Sieger unter den mehr als 100 Teams. Das erfolgreichste Fahrzeug schaffte weniger als 5% der Strecke.

Davon hörte Sebastian Thrun, ein damals 37-jähriger Deutscher, der kurz zuvor Professor für Künstliche Intelligenz in Stanford geworden war. Thrun fuhr den Parcours des 2004er Wettbewerbs manuell nach, was auch für einen menschlichen Fahrer eine Herausforderung war.

Die nächsten 18 Monate arbeitete Thrun mit 5 bis 10 Studenten an einem VW Touareg, den sie mit Sensoren ausstatteten, programmierten und fahren ließen.

Im Jahr 2005 wurde der Wettbewerb erneut ausgeschrieben – dieses Mal mit einem doppelt so hohen Preisgeld (2 Mio. Dollar) wie im Jahr zuvor. Dieses Mal gab es fünf Gewinner. Sebastian Thruns Stanford-Team was das Schnellste.

2007 folgte ein weiterer Wettbewerb, bei dem auch durch bebautes Gebiet (ein verlassener Air Force Stützpunkt) gefahren wurde. Thruns Team wurde Zweiter mit einem VW Passat.

Daraufhin wurde Thrun von Google eingestellt und durfte aus den anderen Teams des Wettbewerbs die besten Leute herauspicken, um sie zu Google mitzunehmen. Unter Thruns Leitung wurden die „Street-View-Autos“ entworfen.

Einige Jahre erforschte und entwickelte Google im Geheimen selbstfahrende Fahrzeuge, bis die New York Times es 2010 öffentlich machte. Die Nachricht schlug ein wie eine Bombe. Weder hatte die Öffentlichkeit erwartet, dass ein Internetunternehmen an so etwas arbeiten könnte, noch dass die Technologie bereits so weit fortgeschritten war. Googles Fahrzeuge hatten zu diesem Zeitpunkt bereits über 200.000 Kilometer zurückgelegt.

 

III. Vorteile & Ethik

Laut Road Safety Report der WHO sind weltweit 1,35 Millionen Menschen im Jahr 2016 bei Verkehrsunfällen ums Leben gekommen.

Laut Wall Street Journal führen 95% aller tödlichen Autounfälle zu keinerlei strafrechtlichen Konsequenzen.
Laut US-Verkehrsministerium sind 94% aller Verkehrsunfälle auf menschliches Versagen zurückzuführen.

Zahlen, die erschüttern.

Selbstfahrende Autos sind nie betrunken und lassen sich nicht von Beifahrern, Smartphones, Zigaretten oder Musik ablenken. Sie fahren auch nie zu schnell oder aggressiv und auch nicht bei Rot über die Ampel.

Im Gegensatz zum Menschen, wo jeder Führerscheinneuling bei null beginnt und sich erst Fahrpraxis aneignen muss, kann jedes neue selbstfahrende Auto sofort auf die Datenbank und jahrelange Erfahrung zugreifen.

Bei diesem Thema kommt man insbesondere in Deutschland schnell auf die Ethik zu sprechen. Ex-VW-Chef Matthias Müller sagte im Interview: „Ich frage mich immer, wie ein Programmierer mit seiner Arbeit entscheiden können soll, ob ein autonom fahrendes Auto im Zweifelsfall nach rechts in den Lkw schießt oder nach links in einen Kleinwagen“.

Dieselbe Frage stellte der Spiegel vor drei Jahren unter der reißerischen Überschrift Lotterie des Sterbens: „Eines Tages wird es geschehen, so oder ähnlich: Ein selbstfahrendes Auto saust übers Land, der Computer lenkt. Der Fahrer hat es gemütlich, er liest Zeitung. Da hüpfen drei Kinder auf die Straße, links und rechts stehen Bäume. In diesem Augenblick muss der Computer entscheiden. Wird er das Richtige tun? Drei Menschenleben hängen davon ab.“

Mario Herger stellt dem Spiegel-Schreiberling in seinem Buch fünf Fragen:

1.) Fahren Sie selbst Auto?

2.) Wenn ja, wie lange schon?

3.) Wenn Sie mit „Ja“ und „Seit mehreren Jahren/Jahrzehnten“ antworten: Haben Sie schon einmal die Entscheidung treffen müssen, mit Ihrem Auto einen Menschen zu töten? Wie oft haben Sie selbst als Autofahrer vor diesem Dilemma gestanden? Kennen Sie irgendjemanden, der bereits vor dem Konflikt stand, entweder Personen zu überfahren oder sich selbst gegen einen Baum zu setzen?

4.) Wem vertrauen Sie mehr, die richtige – sofern das überhaupt möglich ist – Entscheidung zu treffen? Einem Fahrer, der solch eine ethische Entscheidung in Sekundenbruchteilen treffen soll, oder einem Softwareentwickler, der Stunden, Tage, Wochen, Monate dieser Frage nachgehen und Algorithmen ausarbeiten konnte?

5.) Wussten Sie, dass nicht der Programmierer letztendlich die Entscheidung trifft, sondern das Auto, das sich durch Maschinenlernen und menschliche Hilfe solch eine Entscheidung selbst beigebracht hat?

 

IV. Wie weit ist welches Unternehmen aktuell?

Autonomes Fahren wird bereits in vielen Teilen der Welt getestet (auf Testgelände bzw. öffentlichen Straßen), z.B. in München von BMW (in Kooperation mit Intel, Mobileye, Fiat Chrysler), in Göteborg von Volvo, in London von Nissan, in Ungarn von AIMotive, in Peking und Wuzhen von Baidu (in Kooperation mit BMW), in Singapur von Delphi und nuTonomy sowie in mindestens fünf US-Bundesstaaten von Dutzenden von Herstellern, wobei Nevada bereits 2011 das erste Gesetz verabschiedete.

Die Herangehensweise der etablierten Hersteller ist unterschiedlich. Einige entwickeln ihr eigenes System. Andere warten darauf, eine fertige Lösung kaufen zu können. Viele wollen einen Schritt nach dem anderen machen und zunächst mit Fahrassistenzsystemen starten, was Chris Urmson von Google mit dem Versuch vergleicht, fliegen zu lernen, indem man sich bemüht, immer ein wenig höher zu springen.

Den größten Einblick erhält die Öffentlichkeit aus Kalifornien. Dort ist jedes Unternehmen, das Selbstfahrtechnologie auf öffentlichen Straßen im Einsatz hat, verpflichtet, jährlich zu berichten, wie viele Fahrzeuge im Einsatz waren, wie viele Meilen diese auf öffentlichen Straßen gefahren sind und wie viele Disengagement diese hatten.

Disengagements werden definiert als eine Deaktivierung des autonomen Fahrmodus, wenn entweder eine Fehlfunktion der Selbstfahrtechnologie erkannt wird oder wenn der sichere Betrieb des Fahrzeugs verlangt, dass der Fahrer des autonomen Fahrzeugs den autonomen Modus ausschaltet und sofortige manuelle Kontrolle des Fahrzeugs übernimmt.

Aus den Disengagements je 1.000 Kilometer kann man schlussfolgern, wie weit die Unternehmen bereits sind. Allerdings sollte man vorsichtig bei der Interpretation sein, denn die Zahlen gelten nur für Kalifornien.

Diese Berichte wurden jeweils für 2015, 2016, 2017 und 2018 veröffentlicht. Ihr habt Glück: Der finale Bericht für 2018 liegt seit 4 Tagen vor und die Ergebnisse stelle ich euch im Folgenden vor.

1. Frage: Welche Unternehmen dürfen aktuell in Kalifornien auf öffentlichen Straßen den Selbstfahrmodus testen?

Dazu zählen große, etablierte Hersteller aus den USA (Ford, General Motors als GM-Cruise), Asien (Toyota, Nissan, Honda, Subaru) und Deutschland (BMW, Mercedes, VW). Dazu Tesla. Aus Deutschland außerdem Bosch und Continental.

Hinzu kommen bekannte Tech-Firmen wie Google (Waymo), Apple, Uber, NVIDIA, Qualcomm, Lyft, Samsung und Baidu.

Insgesamt mussten 48 Unternehmen in 2018 den Bericht abliefern. Dabei stellte sich heraus, dass 30 von ihnen in 2018 auf öffentlichen Straßen in Kalifornien im autonomen Modus unterwegs waren.

2. Frage: Wie viele Kilometer legten die Unternehmen in Kalifornien auf öffentlichen Straßen im Selbstfahrmodus zurück?

Summiert über die Jahre 2015 bis 2018 sind die Top 6:

      • Google-Waymo mit 4.294.929 km
      • GM-Cruise mit 942.518 km
      • Apple mit 127.592 km
      • Zoox mit 55.560 km
      • Aurora mit 52.573 km
      • Uber mit 43.038 km

Über die gesamten USA verteilt ist Google-Waymo sogar schon mehr als 17 Millionen Kilometer autonom auf öffentlichen Straßen unterwegs gewesen – davon 96-97% im Stadtgebiet und 3-4% auf Autobahnen und Landstraßen

 

3. Frage: Wie viele Kilometer schafften die Unternehmen dabei in 2018 pro Disengagement? Anders formuliert: Alle wie viel Kilometer musste der Selbstfahrmodus abgeschaltet werden aus Sicherheitsgründen oder aufgrund von Fehlfunktionen?

Dafür habe ich die Zahl der Kilometer durch die Zahl der Disengagements geteilt. Hier die Top 6:

      • Google-Waymo mit 17.847
      • GM-Cruise mit 8.328
      • Zoox mit 3.076
      • Nuro mit 1.645
      • Pony.ai mit 1.636
      • Nissan mit 337

Was lernen wir aus den Zahlen (wie gesagt: mit Vorsicht zu genießen, da nur Kalifornien betrachtet wird)?

      • Von 30 Unternehmen sind die Top-2 nach Disengagements auch die Top-2 nach Kilometern. Erfahrung ist Gold wert.
      • Google-Waymo hat in jedem der Jahre 2015 bis 2018 mehr Kilometer zurückgelegt als alle anderen Unternehmen zusammen.
      • Google-Waymo schafft es, dass der Selbstfahrmodus nur alle 17.000 Kilometer deaktiviert werden muss. Auf öffentlichen Straßen. Wahnsinn!

Mein Excel-Sheet mit den gefahrenen Kilometern, Zahl der eingesetzten Fahrzeuge und Disengagements aller 48 Unternehmen von 2015 bis 2018 könnt ihr hier herunterladen.

In Arizona hat Google vor kurzem seinen Dienst Waymo One gestartet. Dabei bietet man einen autonomen 24/7 Taxidienst an, allerdings zunächst nur einer Testgruppe in ausgewählten Kleinstädten. GM-Cruise plant, in 2019 einen ähnlichen Dienst anzubieten.

Ein Analyst von Morgan Stanley hat Google-Waymo kürzlich mit 175 Milliarden Dollar bewertet.

 

Abschluss

Mein Beitrag ist jetzt bei 1.900 Wörtern angekommen. Ich könnte locker noch 600 Wörter zu gemeisterten und aktuellen Herausforderungen rund um Selbstfahrtechnologie hinzufügen, 2.500 Wörter über Elektromobilität und 800 Wörter an Kritik an den deutschen Herstellern.

Ich habe also noch Schießpulver für 2 bis 3 weitere lange Beiträge zur Mobilität. Allerdings fände ich das etwas respektlos gegenüber Dr. Mario Herger, der ein erstklassiges Buch geschrieben hat.

Falls ihr mehr über Gegenwart und Zukunft des autonomen Fahrens, der Elektromobilität und der Sharing Economy erfahren wollt, dann lege ich euch sein Buch wärmstens ans Herz.

Die Auflistung der 13 Quellen, die ich für meinen Beitrag verwendet habe, könnt ihr hier als PDF herunterladen.